Sehnsucht

Ich schwinde mal wieder.

Schon den ganzen Tag ein Unwohlsein, habe mich aber entschieden es nicht weiter zu beachten und stattdessen Punkte abzuarbeiten und zu essen. Das habe ich nicht bewusst entschieden, aber wenn ich nicht bewusst entscheide, entscheidet es für mich, das automatische Programm.

Doch als ich beim Küche Aufräumen buchstäblich drohte wegzusinken, weil ich spüren konnte, wie mich die Lebenskräfte verlassen, und zum dritten Mal in die Chipstüte griff obwohl ich Chips gar nicht mag, da war der Moment gekommen für ein wenig Entscheidung.

Ok, was ist los?

Ich fühle mich, als würde mich die Welt von alles Seiten zusammendrücken, sie hält mich fest und drückt mich zusammen, sie belastet mich, ich spüre diesen Druck körperlich. Gleichzeitig spüre ich eine Fluchtbewegung, ein Teil will weg von hier, will nach unten verschwinden, sich vom Acker machen.

Ich bleibe einfach bei diesen Empfindungen, kann eh nichts tun. Es fröstelt mich, es schüttelt mich, es zuckt.

Jede Erfahrung ist gültig, fällt mir Michael Brown ein, es ist genau die Erfahrung, die jetzt notwendig ist um blockierte Emotionen zu integrieren.

Ich stelle die Frage, ob ich mich zu einen früheren Zeitpunkt schon so gefühlt habe. Es kommen Bilder, von Studienzeiten, von Schulzeiten, vom Auswandern. Ich stelle immer wieder die Frage nach einen noch früheren Zeitpunkt.

Ich sehe mich als ganz kleines Baby schon dem Druck ausgesetzt und auf der Suche nach einem Fluchtweg. Es ist wie eine Geburtsprägung, das ist mein Lebensmodus, ich sage mal optimistisch: war es bisher.

Ich bleibe einfach dabei und bin mit mir und den Gefühlen, ich halte mich dabei während sei durch mich hindurchziehen. Auch während ich meine Tochter von der Schule abhole, zittern, frieren, zucken, würgen, alles dabei. Es wird immer schlimmer, und dazu kommt noch eine bleierne Müdigkeit, als würde ich jeden Moment wegdriften, als wäre hierbleiben einfach zu schwer.

Ich konnte nicht mehr, ich habe mich hingelegt und bin sofort eingeschlafen. Habe eine Stunde geschlafen. Jetzt fühle ich mich völlig erschlagen.

Es baut sich alles wieder auf, ich fühle mich wie ein Vulkan kurz vorm Implodieren. Gleich falle ich in mich zusammen und bin weg.

Ich hänge, irgendetwas will ich nicht wahrhaben. Ich lausche. Da höre ich es:

‚Ich will endlich dünn sein, endlich wieder schön sein, ich will mit gut fühlen, mich stark fühlen, mich wohl fühlen, keine Angst haben‘

Oh ja, ich höre dich, und jetzt verstehe ich auch, dich wollte ich ja gar nicht haben, du bist quasi verboten. Wieso eigentlich?

Das nützt doch nichts, sich nach etwas zu sehnen, was nicht ist.

Nützt nichts inwiefern?

Macht sie nur unglücklich weil es nicht so ist.

Oh. Soweit ich das hier sehe, war sie nicht unglücklich weil sie sich nach etwas sehnt, das nicht ist, sondern weil sie das Sehnen unterdrücken musste.

Sich etwas wünschen was nicht ist, darf nicht sein.

Wie kommst du denn auf so etwas?

Na ja, man soll doch annehmen was ist.

Ach so, daher weht der Wind. Das hast du ein wenig missverstanden. Was ist, ist. Und das Sehnen IST auch. Wenn das nicht sein darf, dann verleugnet sie ja auch was ist. Alles was ist, ist, und weil es ist, ist es richtig, sonst wäre es nicht. Also auch das Sehnen.

Der Druck ist raus, ich fühle mich weicher und wärmer, ein wenig traurig, weil ich nicht dünn bin, aber das darf eben auch sein. Bin wieder verbunden, was für ein Unterschied, immer wieder verblüffend. Vorher war ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch und jetzt fühle ich mich wohlig warm und nichts aber auch gar nichts im Außen ist anders.

Der Fettanzug

Heute morgen sitze ich auf dem Sofa im Zimmer meiner Tochter und warte, dass sie sich anzieht. Ich schließe die Augen, weil ich müde, traurig und überfordert bin. Ich will ein wenig reinfühlen.

Da spüre ich meinen Körper zweigeteilt, nein, anders, ich spüre meinen dünnen Körper, es ist als stecke er in einem Fettanzug. Ich kann die Grenze richtig fühlen, spüre genau, wo der eigentliche Körper ist und wo der Anzug. Ich kann fühlen wie sehr mich der Fettanzug einengt, behindert und beschwert.

Der innere dünnere Körper bewegt sich autonom. Während der Fettanzug ruhig auf dem Sofa sitzt, hüpft und tanzt er herum, weil im Radio gerade gute Musik kommt. Und er voller Energie ist. Der äußere Körper, der kann das gar nicht, der ist viel zu schwer und unbeweglich.

….

Das war heute morgen. Inzwischen ist es Nachmittag, ich hatte bisher keine Zeit mehr dem nachzugehen, und wenn ich jetzt reinspüre geschieht etwas Interessantes. Dieser dünne Körper, den ich heute morgen ganz deutlich fühlen konnte ist weg. Zu einem kleinen Punkt im Oberkörper geschrumpft. Der Fettanzug ist zu meinem Körper geworden, weil der andere Körper weg ist.

Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Heute morgen war ich noch in Kontakt mit meiner Essenz, da konnte ich beide Körper wahrnehmen, da wurde mir der Fettkörper zu viel, zu schwer, belastend.

Über den Tag habe ich den Kontakt verloren, und der Fettkörper übernimmt, füllt die Lücke, springt ein, damit kein Vakuum entsteht.

Wo bist du denn hin, dünner Körper?

Ich kann so nicht sein.

Was brauchst du um sein zu können?

Aufmerksamkeit und Zuwendung, anders geht es nicht. Du hast mich doch völlig vergessen, du vergisst mich immer, wenn etwas zu tun ist, jetzt hast du Pause und jetzt falle ich dir wieder ein, nach acht Stunden!

Ja das stimmt. Was könnten wir nur machen, damit ich dich nicht vergesse?

Du musst dich entscheiden, immer und immer wieder für mich entscheiden. Es gibt nichts, was du tun kannst und dann ändert sich alles wie durch Zauberhand. Wenn du mit mir in Kontakt bleiben willst, dann musst du dich dafür entscheiden. In jeder Situation neu, auch wenn es nicht passt, auch wenn es schmerzhaft ist. Gerade dann ist es wichtig. Gerade dann brauche ich Zuwendung und Liebe und Aufmerksamkeit. Wenn alles gut ist, ist es leicht. Aber ich brauche dich wenn es nicht gut ist, dann musst du bei mir bleiben. Und ich sage dir noch etwas: wenn du den Weg nicht mehr findest oder die Welt zu laut ist, dann hast du immer eine Brücke zu mir, das Atmen. Der Atem führt dich immer zu mir, darauf kannst du dich verlassen.

Ich bleibe beim Atem und fühlen wie der Punkt langsam größer wird, ich habe mehr Raum in der Brust, gleichzeitig werden Gefühle freigegeben, die ich den Tag über unterdrückt habe. Ich lasse alles geschehen. Ich werde weicher, der innere Körper wächst, ich kann ihn wieder fast vollständig fühlen. Von den Fußsohlen bis zum Scheitel und bis zu den Fingerspitzen. Das ist so schön wieder verbunden zu sein.

Fettkörper, was ist mir dir? Hast du eine Botschaft für mich? Wie fühlst du dich?

Ich bin die Ausgleichsbewegung der Natur. Ich muss da sein, damit du am Leben bleibst. Wenn dein Kern nicht leben darf, dann muss etwas das sein, was dich auf der Erde hält.

Du meinst sonst würde ich sterben?

Ja. Ohne Essenz, ohne Substanz würdest du sterben. Ich bin wie das Papier, dass man in den Schuh stopft, damit er sich nicht verformt solange er nicht getragen wird. Mein ganzes Dasein ist Ersatz. Und ich kann auch erst gehen, wenn dieser Ersatz nicht mehr notwendig ist.

Und der Ersatz ist nicht mehr notwendig wenn was passiert?

Das weiß ich nicht, ich bin ja nur der Ersatz. Ich weiß, dass ich automatisch gehe, wenn ich nicht mehr notwendig bin. Und ich weiß auch dass der Anfang über den Kontakt zur Essenz geht. Alles andere wird sich zeigen. Vertraue dir.

Ich bin unschuldig

Die Frau Angst ist wieder sehr mächtig.

Zittern, Magenkrämpfe, weiche Knie, so bin ich aufgewacht. Es ist als ob der Körper erst schlafen muss um die Energie für all die Angstsymptome zu sammeln.

Also, Frau Angst, was soll ich tun?

Kämpfe nicht. Fühle nur. Dann wir dir etwas gezeigt.

Hm. Was?

Das siehst du dann.

Und wie lange?

So lange es dauert.

Ha, ha.

Ok, also ich fühle.Ich tauche ein in den Strudel von Übelkeit und Schwindel und Schwinden. Ich würge und zucke. Zwischendrin merke ich wie der Widerstand automatisch versucht alles wegzudrücken. Es braucht eine bewusste Entscheidung es zuzulassen.

Ich halte das nicht aus, mich ständig so zu fühlen, ich drifte weg, es ist anstrengend. Dabei zu bleiben ist anstrengend. Kann ich nichts von mir wollen?

Wie wäre es wenn ich nichts von mir wollte?

Dann fange ich an mich aufzulösen, werde von Angst und Widerstand in Stücke gerissen. Jeder krallt sich ein Teil. Tränen kommen, sinnlose Situation. Nicht zu ändern.

Ich lege mir eine Hand auf die Brust und schenke mir selbst Mitgefühl, weil es einfach so verdammt Scheiße ist. Ich bin verdammt zu einem Leben in Angst.

Das Mitgefühl ist wie warmes Öl, das ich über meine Haut gieße, es umspült mich, es umschließt mich, es wärmt mich, es tröstet mich. Es gibt keinen Ausweg, aber es gibt Trost.

Und ich merke, Mitgefühl stellt sich erst ein, wenn ich die Hoffnung auf Beeinflussung der Situation völlig aufgegeben habe. Sonst steuert der Antreiber, der will, dass ich mich noch mehr anstrenge um das Problem zu lösen und der mir vorwirft mir nicht genug Mühe zu geben. Der gibt mir die Schuld, ja, der gibt mir die Schuld.

Aber ich habe keine Schuld. Aufgrund unzähliger Umstände, die ich alle nicht beeinflussen konnte geht es mir so, und es wird weiter so sein, dass ich mit unzähligen Umständen konfrontiert werde, die ich nicht beeinflussen kann. Und auch was es in Zukunft mit mir machen wird, ist nicht meine Schuld. Ob ich dann so, oder so oder so reagiere, das weiß ich nicht, und wie auch immer es sein wird, ich habe keinen Einfluss.

Dass ich mich dieser Tatsache nicht vertrauensvoll hingeben kann, das ist das Ergebnis meiner Geschichte auf dieser Welt, und auch das ist ein Umstand, den ich nicht beeinflussen konnte.

Wir Menschen sind dem Leben ausgeliefert, nackt und ungeschützt, egal was wir tun. Und wenn wir dem Leben nicht vertrauen, dann geht es uns eben so. Und dass wir dem Leben nicht vertrauen, das ist auch nicht unsere Schuld.

Aus dieser Perspektive ist es ganz leicht mir mit Mitgefühl zu begegnen, und ich merke, ich brauche dieses ganze Mitgefühl auch dringend, das hat es für mich nie gegeben. Nie.

Auch wenn ich schon hin und wieder auch getröstet worden bin, so doch nie ohne einen Spruch wie: ‚Das hast du jetzt davon.‘, ‚Das habe ich dir gleich gesagt.‘, ‚Warum musstest du auch…‘, ‚Stell dich nicht so an.‘ ‚Selber schuld.‘

Ja, tief eingegraben glaube ich, dass ich an meiner ganzen Misere selbst schuld bin, dass mir das alles wider besseren Wissens selbst eingebrockt habe und dafür sicher kein Mitgefühl verdiene sondern noch einen obendrauf, damit mir das ja nicht nochmal passiert und ich endlich daraus lerne.

Was für eine grausame Welt in mir drin.

Aber jetzt lege ich mir immer wieder die Hand auf die Brust und sage innerlich: ‚Ich bin unschuldig. Dass es mir so geht, geschieht ohne mein Zutun, ich kann es nicht beeinflussen, ich verdiene all mein Mitgefühl für meine schwere Situation.‘

Und, was soll ich sagen, das System beruhigt sich ein wenig. Und das ist viel, wo ich vorher schon kurz vom Brechen war und auf jeden Fall nicht in der Lage war aufrecht zu stehen.