Alles gleich und doch ganz anders

Seit ich hier schreibe fallen mir vermehrt Unachtsamkeiten beim Essen auf, die ich sonst ausgeblendet hätte. Es ist als würde das Universum auf virtuelle Art ein Auge auf mich haben und mich auf blinde Flecke aufmerksam machen.

Dass ich jetzt ein paar Nüsse und ein Stück Schokolade gegessen habe, dass ist nicht das Problem. Ich habe Hunger. Und es summt süß und knackig und konzentriert. Passt.

Das Problem ist, das war Zufall. Es hätte genau so sein können, dass ich keinen Hunger habe oder das etwas ganz anderes summt, weil ich es fast nicht bemerkt hätte, dass ich esse. Aber Gott sei Dank eben nur fast.

Jetzt atme ich durch, spüre meine Füße und nehme mir ein wenig Zeit mich mit mir rückzuverbinden. Wie geht es mir?

In mir fährt es Karussell, im Brustkorb dreht sich alles, mein ganzer Körper vibriert, wenn ich es zulasse, dann noch viel stärker. Innerlich tanzt es und hüpft es und springt es. Wild durcheinander. Aber schön.

Ja, schön, das ist neu. Dieses aufwühlende verrückte Rumgesause ist schön. Das ist pure Lebendigkeit, genau die Lebendigkeit, die ich oft verzweifelt suche.

Warum dann das Essen?

‚Weil das Intensive abgedämpft werden soll, ob negativ oder positiv.‘

Und wieso?

‚Weil das viel zu anstrengend ist.‘

Was heißt anstrengend?

‚Nicht Nulllinie.‘

Nulllinie?

‚Ja, die Nulllinie ist anzustreben, der Om-Zustand, alles andere ist nicht gut.‘

Wieso nicht?

‚Weil es nicht die Nulllinie ist.‘

Ja, das habe ich verstanden, aber wenn schon, dann ist es eben nicht die Nulllinie, und?

‚Nur in der Nulllinie ist Sicherheit, das ist bekannt und absolut sicher.‘

Sicher inwiefern?

‚Keine Überraschungen, Nulllinie eben.‘

Und wieso keine Überraschungen?

‚Die können überwältigend sein.‘

Ist das schon mal vorgekommen?

‚Ja, ganz oft früher, wenn sie ihren Impulsen oder ihrer Lebendigkeit freien Lauf gelassen hat, wurde sie entweder bestraft oder kritisiert. Es war nie richtig was dabei herauskam. Also helfe ich ihr sich runter zu regulieren.‘

Aber das entspricht nicht ihrem Wesen, sie ist von Natur aus laut und intensiv.

‚Ja, das stimmt‘

Ich verstehe, dass es in ihrer Kindheit ganz wichtig war, diese Fähigkeit zu entwickeln sich selbst runterzufahren. Aber ist es heute noch relevant?

‚Nein‘

Nein, heute darf ich die Lebendigkeit spüren und ihr auch einen Ausdruck geben. Ich darf herumhüpfen und albern sein, laut und nervig, intensiv und gefühlsbetont, es darf alles ans Licht. Alles.

Die Spannung geht runter. Das Karussell ist immer noch da, aber ich kämpfe nicht mehr dagegen an. Ich genieße es.

Es ist alles genau so wie vorher, aber total anders.

Der Abend, das Essen und die ganz, ganz harte Nuss

Meine allergrößte Hürde ist das Abendessen. Das rechtzeitige Aufhören fällt mir unglaublich schwer. Und ich muss auch gestehen, dass ich das Arbeiten damit auch vermeide wo es nur geht. Obwohl ich also bis auf runde 20 Mal in fünf Jahren jeden Abend zu viel esse, habe ich diese 20 Mal damit gearbeitet und sonst nicht.

Die Macht des Essens ist am Abend so groß, dass es mir währenddessen sogar absurd erscheint mich zu fragen ob ich noch Hunger habe. Nicht die allerkleinste Pause darf sein, ich könnte dann vielleicht nicht weiter essen und dann… Ja was dann eigentlich?

Einfach nicht essen und den Drang und Druck einfach aushalten ist keine Option (mehr), das habe ich zu Diätzeiten zu Genüge getan, bringt ja langfristig nichts, denn irgendwann kommt der Zeitpunkt an dem die Kraft zum Zusammenreißen nicht mehr ausreicht und dann geht alles wieder von vorne los. Und genau das will ich nicht mehr.

Im Nachhinein kann ich es auch nicht bearbeiten, da komme ich in diesem Fall nicht ran. Es hilft nur auf frischer Tat. Und genau das ist sooo schwer. Heute will ich es tun.

Später. Es fällt mir schwer zu stoppen, aber ich schaffe es, weil ich verspreche nur zu schauen und mir nicht das Essen zu verbieten.

‚Aufhören kommt gar nicht in Frage, das geht nicht, dann hatte ich nichts vom Tag, ich muss voll sein.‘

Voll heißt, dass der Magen schon leicht gedehnt wird, aber noch nicht überdehnt.

‚Das ist abends für mich wichtig, dann kann ich auch aufhören. Wenn noch das klitzekleinste bisschen in den Magen passt, dann kann ich nicht aufhören.‘

Musste in der Zwischenzeit dies und das mit den Kindern besprechen, den Tisch abräumen und schwupp, landeten ein paar Reste in meinen Mund, nicht viel, drei Bissen, aber genau die machen den Unterschied. Vorher war ich satt, jetzt bin ich voll.

Ich atme ein paar Minuten und fühle was ist.

Trauer, Enttäuschung, die Stimme meldet sich auch: ‚So wird das nichts, wieder nicht geschafft.‘

Ja, ja ich weiß, du bist auch da. Die Stimme kann mich nicht mehr schocken.

Ich fühle weiter, eine tiefe Verzweiflung, ich will einfach nicht mehr dick sein, ich will es nicht, ich kann meinen Anblick nicht ertragen. Ich will mich für mein Praktikum in Kliniken bewerben und schäme mich für mein Gewicht.

‚Eine dicke Tanztherapeutin, das geht gar nicht‘

Warum?

‚Wem will sie denn helfen, sie kann sich ja selbst nicht helfen.‘

Was meinst du mit helfen?

‚Dünn sein.‘

Soll sie denn den Patienten helfen dünn zu sein?

‚Ne, das nicht.‘

Also wie hängt das zusammen?

‚Dick sein ist ein Ausdruck des Versagens, solange sie dick ist muss sie sich schämen. Und gerade als Therapeutin geht das gar nicht. Damit ist sie per se unglaubwürdig.‘

Boah. Der Glaubenssatz sitzt tief. Ich spüre die Resonanz im ganzen Körper. Tränen. Schauer. Schwindel. Immer wider faszinierend wie genau der Körper rückmeldet wenn man des Pudels Kern getroffen hat.

Ich bin gerade sprachlos. Es tut gut, diesen Satz gefunden zu haben und die enorme Macht zu spüren, die es über mich hat, gleichzeitig bin damit so identifiziert, ich habe nicht die geringste Ahnung wie ich es auch anders sehen könnte.

Ok. Ich fange an.

Warum ist das ein Ausdruck des Versagens?

‚Wenn sie dick ist, arbeitet sie nicht genug an sich.‘

Wann wäre es genug?

‚Wenn sie dünn ist.‘

Geht es nur darum? Sind damit alle dünnen Menschen keine Versager?

‚Genau‘

Und wenn sie einfach kein Essproblem haben? Oder nur durch Kampf mit dem Essen das Gewicht halten?

‚Egal‘

Du meinst also, jeder, der dünn ist, ist automatisch ein glaubwürdigerer Therapeut als sie?

‚Ja‘

Weil?

‚Weil das Aussehen stimmt. Der Rest ist nicht so wichtig. Das findet sich dann.‘

Ich höre hier auf und mache später weiter. Ich bin müde und komme hier nicht weiter. Alles erscheint mir in Stein gemeißelt. Und auch wenn meine Ausbilderin meine Glaubenssätze nicht teilt, für mich gibt in diesem Moment keinen Weg es anders zu sehen. Dieser Glaubenssatz ist eine ganz ganz harte Nuss. Der lässt sich nicht so leicht vom Tisch fegen. Noch nicht.

Als Akt der Selbstliebe folge ich jetzt meinem Bedürfnis nach Pause und vertage diese Erforschung.

Was würde ich tun, wenn ich dünn wäre?

Tausend Mal habe ich es schon gehört. Nicht nur wenn es um buddhistische Praxis geht, sondern auch bei Geneen Roth, Susie Orbach, Sheryl Canter.

‚Wir können nichts loslassen, was uns nicht gehört‘ oder ‚Erst müssen wir etwas vollständig annehmen um es zu verändern‘ oder ‚Solange du abnehmen willst, wirst du nicht abnehmen‘ oder ‚Erst wenn du deinen Körper liebst wie er ist, kannst du Gewicht verlieren‘ Paradox, ein Koan.

Jetzt bin ich nicht erst seit gestern dabei. Ich habe schon einige Arten ausprobiert um damit umzugehen.

Eine Strategie war: ‚Ich akzeptiere, dass ich meinen Körper hasse und er deswegen dünner werden muss‘. Die hat mich die meiste Zeit meines Lebens begleitet und mich unzählige Diäten machen lassen. Erst unbewusst, dann immer klarer als ich zu SuH kam um aus dem Diäten-Teufelskreis auszusteigen.

Die erste Zeit dort habe ich auch abgenommen, ich dachte schon das war’s, ich bin über’m Berg, bis ich zu meinem Entsetzen wieder anfing zuzunehmen. Damit hatte ich nicht gerechnet! Ich dachte, wenn ich einmal verstehe wie ich bei Essdruck nicht esse, dann war’s das. Denn, wie ich dort gelernt habe, es gibt einen guten Grund warum ich esse. All das, was ich nicht anschauen und fühlen will, muss ja irgendwie abgedämpft werden. Und wenn ich das jetzt anschaue, dann muss doch alles gut sein.

Aber, klappte irgendwie nicht. Anfangs wusste ich gar nicht wieso. Bis ich so schrittweise dahinterkam, dass ich eigentlich die : ‚Ich esse nur wenn ich Hunger habe und nur bis ich leicht satt bin Diät‘ gemacht habe. Und wehe es gelang mir nicht, dann hatte der Kritiker freie Fahrt, das schlechte Gewissen, die Scham, all das war immer noch da. Dabei war es doch das was ich nicht mehr wollte. Ich wollte mich nicht mehr zwanghaft mit Essen beschäftigen, ich wollte mich deswegen nicht mehr verurteilen und niedermachen. Aber ich tat es immer noch. Weil es mir nicht vornehmlich darum ging mich kennenzulernen und herauszufinden was tief in meinem Inneren los war, was mich so penetrant zum Essen trieb, sondern weil ich nur dünn sein wollte, und das war ein Weg dorthin. Aber so wurde das nichts.

Das brachte mich zur zweiten Strategie, mich damit abzufinden, dass ich eben dick bleibe. Also egal, wenn ich Essdruck habe, habe ich eben Essdruck, dann kann ich auch mal essen. Manchmal geht es halt nicht anders. Dann bleibe ich eben dick. Dieser Satz an sich war schon ein Meilenstein, niemals hätte ich mir in den Jahren davor vorstellen können, das zu sagen. Jetzt kann doch alles gut sein.

Leider bin ich nicht dick geblieben, sondern NOCH dicker geworden. Und das ging gar nicht.

Und da bin ich heute. Gewichtsmäßig. Und ansonsten in einem Schwebezustand. Irgendwie verwirrt.

Die jahrelange Auseinandersetzung mit den Gründen warum ich esse hat insofern Früchte getragen, dass ich keine richtigen Fressanfälle mehr habe, in denen ich Unmengen unkontrolliert in mich hineinstopfe. Ich esse nur immer wieder etwas zu viel. Eine Kleinigkeit. Wenn ich die Mengen zusammenzähle, die ich so täglich, ohne jede Diät oder andere Reglementierung, zu mir nehme, dann ist das oft weniger als in Diätzeiten.

Warum nehme ich nicht ab? Warum habe ich damals abgenommen? Das verstehe ich einfach nicht.

Eine Möglichkeit um das herauszufinden ist noch genauer hinzuschauen, zu schauen, ob ich mich nicht selbst betrüge, ob ich kleine Essanfälle einfach ignoriere, nicht wahrnehme. Oder ob ich auf den falschen körperlichen Hunger hereinfalle, ein sehr trickreich getarnter emotionaler Hunger, der sich nur mit dem absoluten Willen zur Wahrheit enttarnen lässt.

Und eine andere ist, mich damit auseinanderzusetzen, dass ich mich im Leben selbst auf die Warteliste gesetzt habe. Wenn ich abgenommen habe, dann… Und da gibt es viele, viele Danns.

Denn eine Wahrheit, der ich ins Gesicht sehen muss, ist, dass ich es unerträglich finde dick zu sein. Und das ist purer Selbsthass, dass ist mir bewusst. Und solange es so ist, wird das Gewicht nicht gehen können. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wie soll ich mich schön finden, wenn ich mich nicht schön finde, wie ich es drehe und wende, die Konditionierung, wie ein schöner Körper auszusehen hat sitzt tief. So schnell kann ich es nicht verändern.

Neulich habe ich in einer Arbeit mit mir selbst herausgefunden, dass es darum geht, das Dicksein nicht mehr als Ausrede gelten zu lassen. Mir die Frage zu stellen: Was würde ich tun, wenn ich dünn wäre? Das hatte ich wieder vergessen, äh, verdrängt.

Das ist keine schlechte Frage. Es ist sogar eine sehr gute Frage. Vielleicht komme ich so dem Leben auf die Spur, dass ich nicht lebe, weil ich dick bin. Vielleicht geht es beim Annehmen und sich selbst Lieben ja auch darum. Aus seiner Essenz heraus zu leben, der Seele und dem Herz zu folgen, egal wie viel ich wiege. Vielleicht ist es auch momentan nicht so wichtig, dass ich mich schön finde. Mit dieser Erwartung produziere ich nur eine weitere Warteschleife: Wenn ich mich endlich schön finde, dann..

Warum muss ich mich überhaupt schön finden? Kann ich mich selbst mögen, auch wenn ich mich nicht schön finde?

Ja, das kann ich. Ich kann es richtig fühlen, ich muss mich nicht schön finden um mich zu mögen. Was für eine Erleichterung!

Und was würde ich jetzt in diesem Moment tun, wenn ich dünn wäre?

Ich würde bemerken, dass ich nebenbei esse, würde mich fragen, ob ich den überhaupt Hunger habe, würde aufhören wenn nein und würde dem Atem folgen und alles einen Tick langsamer machen, meine Arbeit an meine natürliche Geschwindigkeit anpassen.

Schon geht die Spannung runter. Und der Essdruck. Wow.

Und immer noch lockt das Essen

Sobald ich es auch nur ins Auge fasse, den ersten Beitrag zu schreiben, kommt der Essdruck. Ich sitze vor zwei riesigen Toastbroten mit Butter und will sie weg atmen. Ich weiß nicht mal ob ich Hunger habe oder nicht, der gefühlte Zugang zum Magen ist versperrt, wie oft wenn Essen was wegmachen soll.

Also setze ich mich zum schriftlichen Erforschen hin, die einzige Möglichkeit für mich aus der Trance aufzuwachen und frage:

Was ist los?

Ich fühle in den Körper, Druck und Spannung.

Ich will essen! Lass mich in Ruhe!

Das verstehe ich. Wenn du aber gegessen hast, wirst du nur voll sein und dich schlecht fühlen, aber das eigentliche Problem wird immer noch da sein. Willst du nicht wissen was mit dir los ist?

Doch.

Ok, dann fühlen wir noch ein wenig hinein.

Ich bin so angespannt, ich habe mich entschieden diesen Blog zu schreiben, aber ich weiß nicht was ich schreiben soll.

Aber du schreibst doch was.

Ja, jetzt schon. Das stimmt. Der Druck geht runter.

Weißt du denn noch, warum du dich entscheiden hast den Blog zu schreiben?

Ja. Ich wollte das was ich gelernt habe mir anderen teilen. Wie ich mit dem Esssucht, den Ängsten, den depressiven Phasen umgehe. Dass ich nicht mehr wegschauen will oder mich mit Essen oder anderen Mitteln wegbeamen will, sondern hinschauen will, fragen will, was verdammt noch mal mit mir los ist. Warum es mir so geht wie es mir geht. Und geht es auch anders? Und wenn ja, wie?

Der einzige Weg, der für mich jemals funktioniert hat, ist der Weg der radikalen Liebe zur Wahrheit, ein Weg der jeden Tag und jede Sekunde eine neue Entscheidung braucht. Ich habe schon sehr oft die Erfahrung machen dürfen, dass das Wissen um die eigene Wahrheit, egal wie wenig ich sie haben will, mir Frieden schenkt.

So auch jetzt. Zu wissen, dass ich essen will, weil ich vor dem ersten Beitrag Angst habe, hat den Druck sofort gesenkt. Ich hatte etwas Hunger, also habe ich ein Brot gegessen, das zweite liegt da und interessiert mich nicht mehr. Nie im Leben würde ich das jetzt noch essen wollen. Ganz schön schräg, wo ich mir vorher am liebsten alles in einem Satz in den Mund gestopft hätte.

Ich habe das schon oft erlebt, sehr oft in den fünf Jahren in denen ich daran arbeite. Und trotzdem esse ich immer wieder einfach anstatt zu schauen was ist. Weil es jedes Mal eine neue Entscheidung braucht. Für die Wahrheit und gegen die Trance. Und das ist gar nicht leicht.

Wird mich dieser Weg aus der Esssucht herausführen, hin zu mehr Liebe zu mir und zum Leben? Hin zur Freiheit, zum respektvollen Umgang mit mir selbst, raus aus der Lebensvermeidung, hin zum Leben, was auch immer das ist. Das weiß ich nicht. Aber gehen werde ich ihn. Und teilen.

Das mit dem Teilen vermeide ich seit Jahren. Ich schrieb für mich selbst. Wozu öffentlich? Diese Frage kann ich immer noch nicht beantworten. Der Wunsch ist einfach da und gewinnt mit den Jahren an Kraft. Die Seele spricht durch unsere Wünsche, also habe ich mich entschieden nachzugeben und ihr zu folgen.