Missing Link

Ich fühle mich ausgewrugen, von allen Seiten gequetscht.

Die Arbeit von gestern wirkt noch sehr nach, und dann ist im Außen etwas passiert, was genau das triggert, was ich am meisten fürchte, die Reaktionen der Anderen. Allein zu schreiben, dass ich die Reaktionen der Anderen am meisten fürchte, treibt mir die Tränen in die Augen, ich hatte immer ein Überlebensprogramm das sagte: Was die Anderen denken ist egal. Ich habe gar nicht gewusst, dass ich die Anderen am meisten fürchte.

Ich stelle mir den Wecker und fühle. Wann habe ich dieses Gefühl früher schon mal gefühlt? Es kommt ein Bild, ich sitze im Buss in Bonn, dort sind wir als erstes gewesen in Deutschland, ich fühle mich genau so wie jetzt, traurig, verwirrt, nicht wissend, gequetscht und esse ein Mars dagegen an.

Wann habe ich dieses Gefühl noch früher schon mal gefühlt? Ich sehe mich im Kindergarten, ich sitze stumm da und verweigere alles, ich spreche nicht, esse nicht, mache nichts. Da habe ich mich also auch so gefühlt, da gehe ich in die totale Abschottung, die anderen sind ja da.

Wann habe ich das noch früher schon mal gefühlt? Ich sehe mich als Krabbelkind auf dem Boden sitzen, lauter Beine um mich rum, totale Verwirrung was die alle von mir wollen, wie ich da wieder rauskomme, ich fühle etwas, ich kann es kaum beschreiben, ich bleibe dabei, jetzt weiß ich es, ich fühle mich allein, getrennt, ich bin allein, niemand ist auf meiner Seite, ich gehöre zu niemandem.

Was für ein vertrautes Gefühl, und doch so unbekannt. Ich bin allein. Niemand ist auf meiner Seite. Ich gehöre zu niemandem.

Ich gehe zu diesem Kind auf dem Boden, setzte mich zu ihm und biete ihm meine Arme an. Es krabbelt zu mir und kuschelt sich in meine Arme, während ihm stumme große Tränen über die Wangen fließen.

Das ist noch ein Zahnrädchen, ein bisher fehlendes Zahnrädchen. ‚Ich bin allein‘ greift in das Zahnrädchen ‚Das ist überwältigend, allein kann ich nicht überleben‘, geht dann über zu ‚Wenn ich den Anforderungen genüge, gehöre ich dazu‘, dass wiederum verbindet sich mit ‚Ich kann niemals die Anforderungen erfüllen, denn ich kann nicht perfekt sein, nichts weniger als das wird von mir verlangt‘, und dann wird das nächste Rädchen in Gang gesetzt, ‚Wenn ich es nicht schaffe droht Unheil, Verderben und Tod‘, dann ‚alle sind gegen mich und warten auf meinen Fehler, Menschen sind gefährlich‘ und schließlich ‚am Besten ich habe mit niemandem etwas zu tun, dann kann ich dem vielleicht entkommen, allein bin ich sowieso, die anderen sind gefährlicher als das Alleinsein‘

Alles passt zusammen wie geölt, das ist das Zusammenspiel. Ich bin ganz geplättet.

Ein Grundgefühl des Alleinseins, dass ein Kind nicht ertragen kann, dann der Versuch sich die Verbindung über die herrschenden Spielregeln zu holen, besonders brutale, meine Therapeutin nennt sie Nazi-Spielregeln, die Anforderungen sind nicht zu schaffen, es wird nur auf eine Gelegenheit zur Bestrafung gewartet, und die kommt automatisch. Als Folge Angst vor der ganzen Menschheit, automatische, prophylaktische Angst, weil angenommen wird, dass alle nach genau den gleichen Spielregeln spielen.

Ich bin froh, unter Tränen froh, dass ich dieses dunkle Loch endlich fühlen kann, mit selbst dabei beistehen kann.

Auf einmal kommt ein Bild, ein Licht, es gab zwei Menschen in meiner Kindheit, die mein Licht waren, bei ihnen galten diese Regeln nicht. Das ist der Grund warum ich in einem sehr kleinen Rahmen einzelnen Menschen vertrauen kann, wenn ich sie sehr, sehr gut kenne und weiß, dass sie mich nicht ändern wollen, dass sie alles an mir akzeptieren.

Dieser kleine Teil, der sich verbinden kann, der eine Bindung eingehen kann ist heil. Aber der große Rest von mir, vermeidet Bindung, scheut Verbindung, will keine Verpflichtung.

Oh mein Gott, die Groschen fallen heute aber heftig. Natürlich, keine Verpflichtung, keine Bindung, das Muster verselbstständigt sich und nimmt in unterschiedlichen Bereichen verschiedene Formen an.

Die Vorgaben sind fast unerreichbar, entweder ich schaffe sie nicht und muss Vernichtung fürchten oder ich schaffe sie unter Aufbietung all meiner Kräfte, mit den allerletzten Energiereserven. Das schwappt über auf alles. Also einfach keine Aufgaben übernehmen, dann bin ich auf der sicheren Seite, oder wenn es doch irgendwie sein muss, dann innerlich distanziert bleiben, dann brauchen mich Vorgaben und deren Erfüllung nicht zu interessieren.

Selbst wenn ich äußerlich Verantwortung übernehme, dann übernehme ich nicht wirklich die Verantwortung.

Also, ich mache das äußerlich, ich vollziehe die Handlung, aber ich bleibe gefühlsmäßig draußen. Bin nicht involviert. Versuche mich in die Gleichgültigkeit zu retten. Ist mir egal wie es wird, im Zweifel habe ich damit nichts mehr zu tun, mich trennen von Dingen und auch Menschen fällt mir leicht, das kann ich gut.

Schon Termine sind unerträglich. Unangenehm weil es eine Verpflichtung ist zu einer bestimmten Zeit irgendwo zu sein. Vorgabe ist: nicht zu spät kommen, nicht verpassen, dort das absolut Richtige tun. Sonst Vernichtung.

Genau so wie Hausarbeit. Das perfekt saubere und perfekt eingerichtete Haus, mit dem perfekten Garten ist nicht erreichbar, also geht es mich innerlich nichts an. Wenn ich anfange das Ziel anzuvisieren, spüre ich schon die totale Überforderung, das würde mich die letzte Kraft kosten und wäre doch unerreichbar. Also fühle ich mich dafür nicht verantwortlich, ich bin gefühlsmäßig nicht involviert. Ich dachte es liegt am Haus, aber nein, es liegt daran, dass ich eine solche Bindung (noch) nicht eingehen kann. Dazu müsste es erlaubt sein die Stroh zu Gold Vorgaben fallen zu lassen.

Noch undenkbar. Natürlich weiß ich das kopfmäßig, aber mein Gefühl hält daran fest. Es will nichts anderes als in Ordnung akzeptieren als das Ideale, Perfekte, Makellose. Alles andere ist bäh. Also ist so ziemlich alles bäh in meinem Leben, den nichts entspricht diesen Anforderungen.

Ich lebe auf fast allen Ebenen im Provisorium, immer bereit zu gehen, immer mit gepackten Koffern. Mein Mann und meine Kinder sind da ausgenommen. Mein Mann ist unter anderem deswegen mein Mann, weil er durch seine Art diese Problematik nicht antriggert. Und inzwischen kenne ich ihn so gut, dass er über diese Grenze gehen durfte, an ihn habe ich mich gebunden, und an meine Kinder auch. Die Perfektions-Anforderungen gelten für sie nicht.

Ich kann das fühlen, den Unterschied. Das Gebundensein. Das ist schön und ich bin sehr froh darüber, es gibt einen heilen Teil in mir. Es ist möglich.

Es fallen mir noch jede menge Bereiche ein, in denen dieses Uhrwerk tickt. Beruf: verschiedene Ausbildungen, Studium, aber keine Entscheidung für einen Beruf.

Wenn Beruf, am liebsten etwas ohne andere Menschen, das ist sicherer, aber so langweilt mich das total.

Von Menschen geht die Gefahr aus. Eine Welt ohne Menschen ist sicher. Und warum? Ich muss das für mich ein paar Mal wiederholen weil es so wichtig ist.

Weil ich alleine bin und niemand auf meiner Seite ist, weil alle Menschen nur darauf warten, dass ich die Vorgaben nicht erfülle um mich zu vernichten, weil die Vorgaben so schwer bis gar nicht zu erfüllen sind, dass ich, sollte ich es schaffen, dabei völlig aufgebraucht bin, drohe vor Erschöpfung zu sterben. Denn ich weiß es gibt keine Gnade, niemand wird mich erlösen, einfach nur weil ich nicht mehr kann, ich muss weitermachen bis ich zusammenbreche oder zugebe dass ich es nicht schaffe und brav meine Bestrafung ertrage.

In dieser Welt gibt es keine Liebe. Das tut gut es aufzuschreiben, immer und immer wieder. Es wird für mich jedes Mal ein wenig klarer.

Und ich merke auch, dass ich in dieser Welt nicht leben will, nicht leben muss. Ich habe auch eine andere Welt kennengelernt. Ich kann wählen, aber nur vorausgesetzt ich bemerke es. Und ich weiß was überhaupt los ist. Das war bis heute nicht der Fall. Klar kenne ich im Prinzip alle Teilchen, aber das Gesamtbild wollte trotzdem nicht entstehen.

Bis ich das Alleinsein fühlen konnte, dieses erbärmliche, bedrohliche Alleinsein, dessen Vermeidung alles weitere in Gang setzte. Das Alleinsein war das Missing Link. Danke, dass es sich gezeigt hat.