Wundervolles Schneckentempo

Heute beim Laufen ist mir etwas aufgefallen. Vorbewusst war es schon die ganze Zeit da, aber heute ist es das erste Mal in mein Bewusstsein gedrungen. In all seiner Tragweite.

Angefangen hat es vor einem Jahr, als ich erneut einen Versuch gestartet habe zu joggen. Vor einigen Jahren war mein letzter Versuch gescheitert. Nach etwa 6 Wochen habe ich es wieder gelassen, war zu anstrengend, kostete mich zu viel Überwindung, ich musste mich zu sehr zwingen.

Und irgendwie zog es mich doch wieder hin. Ich wollte unbedingt joggen, trotz meines Gewichts. Also startete ich einen erneuten Versuch. Diesmal im absoluten Einklang mit meinem Körper. Ich habe ihm hoch und heilig versprochen, dass es für ihn immer angenehm sein wird, dass ich nichts von ihm verlange, was er nicht leisten kann.

Ich fing an mit fünf Minuten langsamen Gehens. Dreimal die Woche. Das war alles. Diesen Plan für super Ungeübte hatte ich nach einiger Recherche gefunden und wusste sofort, fünf Minuten gehen, das kann ich und ist trotzdem mehr als ich zu der Zeit gemacht habe. Wenn man sich die Komfortzone als Gummiband vorstellt, dann verlasse ich sie nicht (Überforderung), sondern gehe an die Grenze und dehne das Gummiband nur ganz leicht, dass es noch angenehm ist. Das ist mein Kompass.

Nächste Woche 10 Minuten gehen, dann 15, irgendwann 25, dann irgendwann 1 Minute joggen mit langer Pause dazwischen, und dann langsam immer mehr laufen und immer weniger gehen. Den Plan hatte ich inzwischen gestreckt, das heißt ich bin länger in einer Phase geblieben, wenn mein Körper mit der Steigerung noch überfordert war. Ich hatte versprochen, dass es immer angenehm bleibt, ein schönes Erlebnis für mich und meinen Körper.

Nach vielleicht vier oder fünf Monaten konnte ich endlich 30 Minuten am Stück laufen. Langsam aber durchgehend. Das war mein Ziel, ich hatte es geschafft!

Bisher wurde mein Leistungsdiktator einigermaßen von diesem Ziel in Schach gehalten, die Stimme die sagte, das ist doch zu wenig, paar Minuten gehen, was soll das bringen, du musst gleich länger laufen, sonst wird das nichts usw. Doch ich erinnerte mich immer wieder, dass ich vor einigen Jahren so angefangen habe, wie es allgemein empfohlen wird, mit Laufen und Gehen im Wechsel, und dass es für mich eine Überforderung war.

Aber mit fünf Minuten Gehen angefangen, schaffte ich es tatsächlich 30 Minuten zu laufen. Länger will ich nicht, das reicht mir.

Womit ich aber jetzt konfrontiert wurde, war meine Geschwindigkeit. Denn ich laufe sehr langsam. Damit es angenehm blieb, waren es damals 4,8 Km pro Stunde, das ist so schnell wie gehen. Überall sprangen mich Pläne an, wie ich meine Geschwindigkeit steigern könnte, und nachdem ich der Stimme nicht mehr glaube, die mir sagt, dass es nur richtiger Sport ist, wenn es weh tut, entschied ich mich dagegen.

Ich versprach mir keinen weiteren Plänen zu folgen, sondern so zu laufen wie es mir gerade gut tut, mein Körper soll mein Sensor sein.

Manchmal hatte ich mehr Energie und Lust mich zu fordern und lief etwas schneller, meistens lief ich aber nur gemütlich im Schneckentempo bei 4,8 Km wie mir meine App immer wieder mitteilte.

Jedes Mal bevor ich laufen gehe habe ich wieder keine Lust. Ich will nicht, oder irgendein rebellischer Teil in mir will nicht, obwohl ich tausend Mal die Erfahrung gemacht habe, wie schön es ist, wie gut ich mich während des Laufens und nachher den ganzen Tag fühle. Und trotzdem ist es immer notwendig diese Unlust mitzunehmen. Also muss ich dem rebellischen Teil versprechen, dass ich auf jeden Fall in einem angenehmen Tempo laufe. Immer wieder muss ich das versprechen, vielleicht weil er zu oft die Erfahrung gemacht hat, dass ich für die Leistung die ich mir vorstelle über ihn hinweggehe. Er traut mir nicht besonders.

Also zurück zu heute. Ich laufe wieder in meinem super angenehmen Schneckentempo als meine App meldet: 5,8 Km pro Stunde. Ich muss dazu sagen, dass ich die App meistens ganz nicht wahrnehme, sie läuft im Hintergrund, aber heute drängte sie sich plötzlich in den Vordergrund. Und da fiel es mir ein, ich hatte immer wieder in der letzten Zeit, 5,1, oder 5,5, manchmal 6,2 sogar gehört, habe das aber nicht beachtet, weil die Geschwindigkeit eben auch nicht wichtig ist.

Was mir heute aufging war eben nicht, dass ich 5,8 Km pro Stunde schnell war, sondern dass ich in meinem super angenehmen Schneckentempo lief und der auf einmal nicht mehr bei 4,8 sondern bei 5,8 war. Heute natürlich. Kann morgen ganz anders sein. Ohne es zu merken oder anzustreben bin ich schneller geworden.

Und während mir im Wald die Sonne ins Gesicht schien und der Hund an der Leine zerrte, wusste ich, dass es wahr ist. Wenn wir uns ganz an den Körper halten, von innen arbeiten, dann geschieht Veränderung. Ganz organisch, und ganz in ihrem eigenen Tempo. Aber dafür dauerhaft und liebevoll und schön und angenehm, ohne Qual, ohne Zwang, ohne Entbehrung. Man braucht nur Geduld und Vertrauen. Oder besser einen ganzen Ozean voll Geduld und Vertrauen.

Und das bringt mich zur Analogie mit dem Essen. Ja was habe ich damit gehadert, dass die Menge, die ich essen müsste um abzunehmen für mich momentan zu wenig ist, ich bin dann einfach nicht zufrieden, nicht befriedigt. Mein Körper will so viel essen um sein Gewicht zu halten, dass klappt mühelos, aber abnehmen will er offensichtlich nicht.

Das heißt, dass meine Entscheidung, die ich vor rund 1,5 Jahren getroffen habe absolut richtig war. Ich habe damals beschlossen aufzuhören abnehmen zu wollen, sondern mich darauf zu fokussieren was mir gut tut, auf allen Ebenen.

Das Laufen hat es mir gezeigt, bleibe ich am Körper orientiert, radikal seinem Wohlergehen verpflichtet, so wird er schneller, sofern er das will, ganz ohne mein Zutun.

Und so wird er auch dünner werden, sofern er das will, ganz ohne mein Zutun.

Und wenn er das nicht will, dann will er eben nicht. Aber eines ist sicher: Selbst auferlegte Qual, Zwang, Entbehrung gibt es für mich nicht mehr, das Wohlbefinden ist mein Leitstern.

 

 

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