Uraltes Marionettentheater

Heute ist es wieder an der Zeit für eine Unterhaltung mit meiner inneren Dicken.

Warum willst du jetzt Süßigkeiten?

Um es zu ertragen.

Was?

Alles, das Leben.

Hm. Geht es nicht genauer? Oder ich frage anders. Gibt es Momente, die du nicht ertragen musst?

Selten.

Ok. Dann nochmal anders. Jetzt in diesem Moment, was musst du ertragen?

Dass ich mich entscheiden muss, mache ich Yoga oder nicht?

Und was ist das Schlimmste was passieren könnte?

Dass ich mich falsch entscheide.

Wie würde das denn aussehen?

Ich mache Yoga, obwohl ich eigentlich keine Lust habe, oder ich mache kein Yoga obwohl ich eigentlich Lust habe. Oder ich denke so lange darüber nach, dass sowieso keine Zeit mehr bleibt.

Oh. Woran würdest merken, dass es die falsche Entscheidung war?

Ich fühle mich dann nicht wohl.

Und ist es dann erlaubt die Entscheidung zu revidieren?

Nur in eine Richtung. Ich kann noch Yoga machen, aber ich darf nicht aufhören, wenn ich angefangen habe.

Wieso nicht?

Weil es wichtig ist durchzuhalten, sich zu überwinden, sich an Vorhaben zu halten, diszipliniert zu sein, organisiert, zuverlässig.

Sonst?

Hier ist Pause. Es kommt nichts. Es ist wie ein riesengroßes Tabu an diesen Eigenschaften zu rütteln. Ich zäume das Pferd mal von der anderen Seite auf.

Ist es so wie sie zu sein hat?

Ja, natürlich.

Weil?

Es gibt kein ‚Weil‘. Alles andere ist undenkbar.

Was ist alles andere? Kannst du mal Beispiele geben?

Änderungen im Plan, die Erlaubnis sanft und freundlich zu sich zu sein, sich um sich kümmern, sich nach den Bedürfnissen richten, überhaupt Bedürfnisse haben, das ist alles undenkbar.

Was würde passieren, wenn sie das tun würde? Wenn sie sich nicht überwinden würde, wenn sie sich nicht an Pläne halten würde? Wenn sie sanft und freundlich zu sich wäre?

Ich sehe vor dem inneren Auge, wie Sanftheit und Freundlichkeit mit meinem Leben als Kind absolut inkompatibel war. Wenn ich aus dem Kind in meinem Bild ein sanftes und freundliches, spontanes, fröhliches und lebenslustiges mache, dann schrumpft es zusammen bis es weg ist. Das habe ich ein paar Mal versucht, es passiert immer wieder. Für dieses Kind war dort kein Platz.

Nur das leistungsfähige, disziplinierte, absolut kontrollierte Kind wurde am Leben gelassen, nur damit entging man ein wenig der Ablehnung, obwohl sie auch so ständig gegenwärtig war, denn gut genug war man nie. Und auch die anderen waren nie fröhlich, spontan oder sanft, sie waren alle nur in ihrer Leistungsbox damit beschäftigt ihre Ergebnisse zu vergleichen und sich über die anderen Versager, die weniger schlauen, die weniger schönen, die weniger wohlerzogenen, die weniger beherrschten lustig zu machen.

Schlau, makellos, schön, kontrolliert und immer zu Höchstleitungen aufgelegt, so war das Ideal, das ist anzustreben, und wenn du es nicht erreicht hast, dann ist das eine Schande, dann hast du dich nicht genug angestrengt, dann bist du einfach nur faul und lässt dein Potential brachliegen, dann versündigst du dich an der Natur, die dich so schön, so begabt und so überragend gemacht hat.

Die, die fanatisch und verbissen irgendeinem Ziel hinterherrannten und nur schlecht gelaunte böse Ärsche waren, die wurden bewundert und ehrfurchtsvoll ‚willensstark‘ genannt, das war überhaupt das höchste Kompliment.

Und die einzige Person, die freundlich war und nachgiebig, wurde nichtsnutzig und faul genannt. Das war übrigens die einzige Person in meiner sehr sehr großen Herkunftsfamilie die dick war, sie ist schon lange tot. Alle anderen waren/sind dünn. Außer mir.

Wenn ich diese Welt wieder aufleben lasse, kann ich die Verzweiflung und den Schmerz der Kleinen fühlen. Bisher konnte ich nur den unbedingten Willen wahrnehmen dem zu entsprechen, und den Schmerz der Verurteilung wenn es nicht geklappt hat. Aber jetzt fühle ich den Schmerz darüber in so einer Welt zu sein. So enge und anstrengende Soll-Vorgaben zu haben, und es gibt kein Entrinnen, keine Gnade.

Ich fühle dieses Kind, dass völlig davon abhängig ist zu entsprechen und sich anstrengt und anstrengt um alles Mögliche was nicht erwünscht ist zu verbannen. Und das ist viel. Denn es soll ruhig und wohlerzogen und sehr, sehr, sehr gut in der Schule sein und nur das gut finden was erlaubt ist und nichts aber auch nichts wollen was irgendjemand in der Familie schlecht oder unwürdig oder gefährlich findet. Wenn es so etwas will, dann ist es ein böses Kind, ein schlechtes Kind, ein kleiner Teufel, eine Natter am Busen der Familie. Das muss korrigiert werden, ausgetrieben werden, mit noch mehr Härte.

Und gegessen wird, wann, was und wie viel die Mutter bestimmt, wenn nötig vom Vater mit Gewalt in das Kind hineingestopft und der Mund zugehalten, damit es das nicht wieder herauswürgt. Die Oma hat da bessere Möglichkeiten, die droht mit dem schwarzen Mann, zur Not wird sogar ein Angestellter als solcher verkleidet, zwecks größerer Glaubwürdigkeit.

Und wenn alles nichts hilft um dieses so mangelhafte Produkt zu verbessern, dann müssen wir uns eben etwas Wirkungsvolleres ausdenken, gegen Schläge und Strafen ist sie ja schon immun, also müssen wir sie dort treffen wo es noch mehr wehtut, ist ja nur zu ihrem Besten, damit sie endlich so wird wie sie sein soll. Dafür ist jedes Mittel recht.

Und weil das alles nicht so fruchtet, keine Ahnung welches Ergebnis jemals recht gewesen wäre, ob das überhaupt existiert hätte, dann bin ich eben der Fluch der auf dem Vater lastet, das lästige Exkrement, das sein Leben zerstört hat, O-Ton, nicht erfunden. Das kann sich keiner ausdenken.

Oh mein Gott, das war so, da drin bin ich aufgewachsen, diese Menschen erzählen mir heute immer noch was ich alles falsch mache, und auch wenn sie im Außen kein Rolle mehr spielen sind sie innen voll aktiv.

Halten die Fahne hoch für militärische Disziplin und Härte und Leistungsbereitschaft. Und lassen mich schlecht fühlen, wenn ich nicht entspreche, immer noch, der absolute Wahnsinn. Verbannen alles Sanfte, Freundliche, Liebevolle mir selbst gegenüber, verspotten es.

Dabei haben sie nicht die allergeringste Ahnung. Sie leben selbst in der Hölle und geben sie eifrig weiter, das fühle ich jetzt, dass das alles der reinste Irrsinn ist.

Ich befinde mich auf Pfaden, die sie niemals betreten haben, von deren Existenz sie nichts erahnen. Sie können mir keinerlei Ratschläge oder Hilfen geben, die in irgendeiner Weise für mich von Bedeutung sind. Alles was sie wissen, ist wie man sich in der Leistungsbox durchschlägt. Wie man eine ganz ordentliche und brauchbare Marionette wird. Von einem Leben außerhalb des Marionettentheaters haben sie schlicht keine Ahnung.

Ich spüre wieder Wärme und Weite. Der Druck geht runter. Ich weiß gar nichts über den Weg den ich gehe, jeder Schritt ist neu und einzigartig, aber ich fühle nun, dass ich getrost den alten Kodex links liegen lassen kann, denn die, die das in mich hinein gebrannt haben, die wussten überhaupt nicht was sie taten.

Ich kann in jedem Moment neu entscheiden, und selbst wenn die alten Gebote auftauchen, ich bin ihnen nicht ausgeliefert, ich kann ihnen einfach nicht folgen. Niemand weiß wohin die Reise geht und was für mich der nächste Schritt ist, niemand.

Essdruck habe ich schon lange nicht mehr, meine innere Dicke konnte ihre Botschaft anbringen, und ich fange mit ein wenig Yoga an, und wenn ich nicht mehr mag, dann höre ich auf. Das geht jetzt, ich fühle mich frei.

2 Gedanken zu „Uraltes Marionettentheater

  1. Hallo C.!
    So vieles, was Du schreibst, passt so sehr auch für mich. Und dabei gab es bei mir keine verkleideten Mitarbeiter und kein Mund-zu-halten beim Essen. Tut mir sehr leid, dass Du so etwas erleiden musstest!
    Aber Aufessen-Müssen gab es und immer wieder Dinge essen müssen, die ich nicht mochte. Bis ich eine Technik raushatte, das zu schlucken ohne es zu schmecken. Mir war gar nicht klar, wie widernatürlich das allein schon ist.
    Und wie kann es nur sein, dass ich genau diese Leistungssätze übernommen in mir habe, obwohl ich gar nicht das Gefühl habe, sie wären explizit so gesagt worden…
    Viele Fragen offen!
    Aber Du hast Recht: Sie können den Weg nicht mal erahnen.
    Das macht mich ein bisschen stolz, dass ich versuche, ihn zu gehen. Aber einen Anteil macht es auch traurig, weil einsam.

    Danke so oder so wie immer für Deine Gedanken und Erlebnisse!
    Christiane

    • Das kenne ich so gut, schlucken ohne zu schmecken. Danke, dass Du mich daran erinnerst. Ich kann beim Essen immer noch nicht mit allen Geschmacksnerven schmecken, da ist noch zu viel Widerstand.

      Und weger der Leistungssätze, das muss nicht explizit gesagt werden, wir nehmen das auch athmosphärisch auf, oder wir ziehen aus den Beobachtungen unsere Schlüsse. Welche das sind hängt von vielen Faktoren auf, zum Beispiel von Grundtemperament oder von den Begabungen die man hat. Deswegen haben auch Geschwister nicht notwendigerweise die gleichen Glaubenssätze.

      Liebe Grüße

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