Das kleine Wesen und die höhere Macht

Ich würde gerne weiter essen. Der Drang ist nicht sehr stark, ich kann unterbrechen und schauen. Ich lasse mir die Option offen, später weiter zu essen, besonders weil ich den Magen gar nicht fühlen kann. Vielleicht habe ich auch noch Hunger.

Der Kontakt zum Magen ist unterbrochen, das ist Teil des Systems, ich fühle nichts und könnte einfach essen bis mir schlecht wird. Das war früher die Grenze.

Ich will das Unwohlsein nicht fühlen, ich bin schon mit diesem Unwohlsein aufgestanden, was ist da los? Ich stelle den Wecker auf 10 Minuten.

Ich spüre einen starken Druck auf der Brust, ein Brennen im Magen, ein Zittern im ganzen Körper. Ich bleibe einfach bei diesen Empfindungen. Gute 10 Minuten lang. Es tut so gut in Stille zu sitzen und nach innen zu lauschen.

Es kristallisiert sich eine innere Dauerspannung heraus, eine innere Hab-Acht-Stellung. Ich stelle die Frage, ob ich diese Empfindungen früher schon mal gefühlt habe. Ich sehe Bilder von mir als Kind, Grundschulalter, ich gehe zur Schule, ich gehe nach Hause, ich bin zu Hause, das Gefühl war immer da. Ein Gefühl von grundsätzlicher Unsicherheit. Jetzt höre ich einen Satz.

‚Ich bin nicht sicher auf dieser Welt.‘ Diesen Satz zu hören beruhigt mich, die Spannung geht runter. Es ist für mich jedes Mal wieder ein Moment schönster Innigkeit mit mir selbst, wenn sich das, was ist, deutlich zeigt.

Ich spüre weiter in den Satz hinein. Ich sehe in mir ein kleines Wesen, winzig und hell, das droht in ein riesiges Loch zu fallen, die Welt öffnet sich unter ihm, und es schwebt über dem Abgrund und hält sich krampfhaft an zwei dünnen Fäden fest, die es mit Mühe zu fassen bekommt. Die Hände rutschen immer weg, es muss ständig nachfassen, Entspannung ist nicht möglich. Auch keine Teilentspannung im ruhigen Hängen.

Und was wäre, wenn du einfach loslassen würdest? Kannst du dir das vorstellen?

‚Ja. Es ist so schwer und anstrengend hier zu hängen, ich kann nicht mehr. Du hast recht. Ich lasse einfach los.‘

Das ist nicht einfach. Die Hand kann es nicht einfach aufmachen. Es lässt sich Stück für Stück an den Fäden nach unten rutschen, aber ganz loslassen kann es noch nicht. Jetzt hängt es mit beiden Händen am Ende der Fäden, aber loslassen kann es immer noch nicht.

Die Wasserfrau erscheint, eine Helferfigur, sie strahlt in hellem Licht und wiegt sich geschmeidig im Rhythmus der Wellen. ‚Es ist in Ordnung‘, sagt sie, ‚du kannst vertrauen.‘ Sie legt ihre beiden Hände auf die Hände des kleinen Wesens.

Und jetzt lässt es los. Und anstatt wie erwartet nach unten zu fallen, schwebt es einfach in der Luft. Es ist als würde es von etwas gehalten werden. Von unten aus dem Loch steigt eine unsichtbare, warme, weiche, kuschelige Substanz hoch, sie stützt und trägt, das kleine Wesen legt sich hin und kuschelt sich ein, das warme weiche Etwas legt sich um das Wesen und umschließt es ganz.

Ich spüre diese Wärme und das Gehaltensein in mir, ich kann es fühlen, dass die Dinge in Ordnung sind so wie sie sind, dass sie so sind, wie sie sein müssen, dass nicht ich dafür sorgen muss und auch nicht dafür sorgen kann, dass es so ist, sondern dass eine höhere Kraft alles hervorbringt und uns trägt.

Der Satz: ‚Ich bin nicht sicher auf dieser Welt‘ hat gerade keine Macht.

Ich ankere diese Arbeit innerlich mit einer Bewegung, wie wir es in der Tanztherapie machen, ich fühle das Gefühl und lasse den Körper eine winzige Bewegung dazu aussuchen. Mein Körper gibt mir ein kaum wahrnehmbares Wiegen zur Seite vor.

Ich verbinde dieses Wiegen bewusst mit dem Gefühl von getragen werden von einer höheren, wohlwollenden Kraft, die alles hervorbringt und dafür sorgt, dass alles genau so ist, wie es sein soll.

Ach ja, essen will ich schon lange nicht mehr, ich habe über eine Stunde mit dieser Arbeit verbracht, den Magen kann ich wieder fühlen, ich habe auch schon wieder oder immer noch Hunger, aber der Drang zu essen ist weg. Essen ist nicht mehr dringend.

Danke.