Das kleine Wesen und die höhere Macht

Ich würde gerne weiter essen. Der Drang ist nicht sehr stark, ich kann unterbrechen und schauen. Ich lasse mir die Option offen, später weiter zu essen, besonders weil ich den Magen gar nicht fühlen kann. Vielleicht habe ich auch noch Hunger.

Der Kontakt zum Magen ist unterbrochen, das ist Teil des Systems, ich fühle nichts und könnte einfach essen bis mir schlecht wird. Das war früher die Grenze.

Ich will das Unwohlsein nicht fühlen, ich bin schon mit diesem Unwohlsein aufgestanden, was ist da los? Ich stelle den Wecker auf 10 Minuten.

Ich spüre einen starken Druck auf der Brust, ein Brennen im Magen, ein Zittern im ganzen Körper. Ich bleibe einfach bei diesen Empfindungen. Gute 10 Minuten lang. Es tut so gut in Stille zu sitzen und nach innen zu lauschen.

Es kristallisiert sich eine innere Dauerspannung heraus, eine innere Hab-Acht-Stellung. Ich stelle die Frage, ob ich diese Empfindungen früher schon mal gefühlt habe. Ich sehe Bilder von mir als Kind, Grundschulalter, ich gehe zur Schule, ich gehe nach Hause, ich bin zu Hause, das Gefühl war immer da. Ein Gefühl von grundsätzlicher Unsicherheit. Jetzt höre ich einen Satz.

‚Ich bin nicht sicher auf dieser Welt.‘ Diesen Satz zu hören beruhigt mich, die Spannung geht runter. Es ist für mich jedes Mal wieder ein Moment schönster Innigkeit mit mir selbst, wenn sich das, was ist, deutlich zeigt.

Ich spüre weiter in den Satz hinein. Ich sehe in mir ein kleines Wesen, winzig und hell, das droht in ein riesiges Loch zu fallen, die Welt öffnet sich unter ihm, und es schwebt über dem Abgrund und hält sich krampfhaft an zwei dünnen Fäden fest, die es mit Mühe zu fassen bekommt. Die Hände rutschen immer weg, es muss ständig nachfassen, Entspannung ist nicht möglich. Auch keine Teilentspannung im ruhigen Hängen.

Und was wäre, wenn du einfach loslassen würdest? Kannst du dir das vorstellen?

‚Ja. Es ist so schwer und anstrengend hier zu hängen, ich kann nicht mehr. Du hast recht. Ich lasse einfach los.‘

Das ist nicht einfach. Die Hand kann es nicht einfach aufmachen. Es lässt sich Stück für Stück an den Fäden nach unten rutschen, aber ganz loslassen kann es noch nicht. Jetzt hängt es mit beiden Händen am Ende der Fäden, aber loslassen kann es immer noch nicht.

Die Wasserfrau erscheint, eine Helferfigur, sie strahlt in hellem Licht und wiegt sich geschmeidig im Rhythmus der Wellen. ‚Es ist in Ordnung‘, sagt sie, ‚du kannst vertrauen.‘ Sie legt ihre beiden Hände auf die Hände des kleinen Wesens.

Und jetzt lässt es los. Und anstatt wie erwartet nach unten zu fallen, schwebt es einfach in der Luft. Es ist als würde es von etwas gehalten werden. Von unten aus dem Loch steigt eine unsichtbare, warme, weiche, kuschelige Substanz hoch, sie stützt und trägt, das kleine Wesen legt sich hin und kuschelt sich ein, das warme weiche Etwas legt sich um das Wesen und umschließt es ganz.

Ich spüre diese Wärme und das Gehaltensein in mir, ich kann es fühlen, dass die Dinge in Ordnung sind so wie sie sind, dass sie so sind, wie sie sein müssen, dass nicht ich dafür sorgen muss und auch nicht dafür sorgen kann, dass es so ist, sondern dass eine höhere Kraft alles hervorbringt und uns trägt.

Der Satz: ‚Ich bin nicht sicher auf dieser Welt‘ hat gerade keine Macht.

Ich ankere diese Arbeit innerlich mit einer Bewegung, wie wir es in der Tanztherapie machen, ich fühle das Gefühl und lasse den Körper eine winzige Bewegung dazu aussuchen. Mein Körper gibt mir ein kaum wahrnehmbares Wiegen zur Seite vor.

Ich verbinde dieses Wiegen bewusst mit dem Gefühl von getragen werden von einer höheren, wohlwollenden Kraft, die alles hervorbringt und dafür sorgt, dass alles genau so ist, wie es sein soll.

Ach ja, essen will ich schon lange nicht mehr, ich habe über eine Stunde mit dieser Arbeit verbracht, den Magen kann ich wieder fühlen, ich habe auch schon wieder oder immer noch Hunger, aber der Drang zu essen ist weg. Essen ist nicht mehr dringend.

Danke.

Angst frisst Freude

Angst frisst Freude.

Sofort. Was auch immer ich mache, das mich auch meiner Komfortzone herausbricht, das wird sofort von Angst gekapert. Wenn ich es nicht mache, bin ich gelangweilt und frustriert. Egal wie, es ist immer verkehrt.

Ein Impuls will mich auf neue Wege bringen, das Überlebensprogramm will mich schön im Altbekannten halten.

Einem ganz starken Impuls folgend habe ich mich für das Praktikum gemeldet und seitdem macht mir die Angst die Hölle heiß. Um solchen Gefühlen zu entkommen habe ich mich lange Zeit im Kokon versteckt gehalten. Ich habe gedacht, wenn es möglich ist nichts tun zu müssen, dann ist alles ok, dann habe ich keine Angst mehr. Aber das stimmte nicht. Die Angst krallt sich dann eben auch noch die alltäglichste Handlung. Und ich lebe gleichzeitig an mir vorbei.

Und nun, nun bewege ich mich also, ich bewege mich in die richtige Richtung, das fühle ich ganz deutlich, aber es ist immer noch nicht einfach, es ist sogar noch schwerer, auch wenn es keine Option ist umzukehren. Denn wie es da aussieht weiß ich schon.

Ich bin hier festgeglüht, innerlich unter Strom, aber schon lange keine Kraft mehr dafür, der Strom lässt sich nicht abstellen. Die erste Stunde ist erst in zwei Wochen und ich bin jetzt schon im Ausnahmezustand.

Es gab Zeiten in meinem Leben, da freute ich mich auf Dinge, auch wenn sie neu und unbekannt waren, die Begeisterung siegte. Was ist passiert?

Ich fühle rein, die Begeisterung, die irgendwo im hintersten Eck wartet, kommt nicht durch. Etwas versperrt den Weg.

Inzwischen hatte ich Therapie. Gott sei Dank. Alleine bin ich da nicht durchgekommen. Es ging um die Erwartung, die ich an mich habe, alles absolut richtig und perfekt zu machen, um die Vorstellung ich stünde vor einen Tribunal, das abhängig von der Leistung über Leben und Tod entscheidet. Dieses Programm überlagert jegliche Begeisterung.

Es war schwer, den Angstpanzer aufzulockern, er wollte sich so gar nicht geschlagen geben, was letztlich geholfen hat, war der Gedanke, dass alle Menschen sind, dass ich etwas anbiete und es so gut mache wie ich kann und dass alle unbekanntes Terrain betreten, nicht nur ich.

Meine Aufgabe ich nicht eine perfekte Leistung abzugeben (was soll das überhaupt sein und wer will das beurteilen), sondern jede in ihrem Sosein willkommen zu heißen. Dieser Gedanke entspannt mich sofort.

Inzwischen ist es spät, der innere Starkstrom ist fast abgeschaltet, ich hoffe ich kann endlich schlafen.

Ich will das nicht fühlen

Ich bin total aufgeregt. Aus dem Nichts hat sich für mich eine neue Praktikumsstelle ergeben. Ich habe die Ausschreibung gelesen, in einem Impuls der Begeisterung angerufen und sofort die Stelle bekommen. Jetzt habe ich Angst vor der eigenen Courage.

Und bin so aufgeregt, dass ich essen will um mich abzudämpfen.

Was will ich jetzt nicht fühlen?

Da ist unglaublich viel Spannung in mir. Ich gebe ihr Raum. Ich bleibe einfach dabei und fühle meinen Atem und meine Füße.

Irgendein Teil von mir ist mit dieser Situation nicht einverstanden: ‚Schon wieder so viel Aufregung, schon wieder etwas Neues, ich will das nicht, das ist mir zu viel.‘

Zu viel inwiefern? Was befürchtest du?

‚Das kostet so viel Kraft, ich habe Angst dass mir die Kraft ausgeht.‘

Und wenn, was würde dann passieren?

‚Dann würde ich sterben.‘

Hast du das schon mal erlebt?

‚Nein.‘

Wie kommst du dann darauf?

‚Ich weiß nicht, was passiert, wenn mir die Kraft ausgeht.‘

Ok. Aber was kostet überhaupt so viel Kraft.

‚Das Aushalten.‘

Was hältst du aus?

‚Die Aufregung, die Angst, all das was mit dem Neuen verbunden ist.‘

Was heißt den aushalten genau? Wie machst du das?

‚Ich versuche das nicht so stark zu spüren, ich versuche das weg zu bekommen.‘

Und was wäre, wenn du das nicht versuchen würdest?

‚Dann wäre ich aufgeregt und hätte Angst.‘

Kannst du das für einen Moment zulassen?

‚Ja.‘

Ich fühle die Wellen der Aufregung und der Angst durch mich hindurchziehen, aber sie sind nicht mehr bedrohlich, sie überfordern mich nicht. Es ist mal wieder wie Karussell fahren. Sich überlassen und vom Leben berührt werden. Wenn ich dafür offen bin, dann ist es so einfach. Und trotzdem das Allerschwerste. Einfach alles fühlen was ist.

Sich wehren und weg haben wollen verursacht den größten Schmerz und ist dabei die erste Wahl. Schon schräg. Warum sind wir nur so, wir Menschen?

Wenn ein Gefühl da ist, ist es sowieso da, wir haben keine Kontrolle darüber, wir können es weder erschaffen noch verhindern. Aber wir tun so als ob, wir schämen uns für Gefühle, wir verstecken sie, wir jagen ihnen nach, wir verbieten sie, ganz so als hätten wir da irgendetwas zu sagen.

Das Essen ist kein Thema mehr. Nichts im Außen hat sich verändert, im Innen alles.

Vorher-Nachher-Effekt

So, Kritiker, jetzt darfst du mir ganz ungeschminkt alles sagen, was du über das Dicksein zu sagen hast.

‚Ich muss gestehen, dass ich im Augenblick verwirrt bin. Ich dachte ich beschieße dich förmlich mit Antworten aber alles was ich sagen will, ist plötzlich haltlos.‘

Ja, und nun? Wenn es also im Augenblick keinen aktiven Kritiker gibt, warum fühle ich mich trotzdem so? Warum bewerbe ich mich nicht? Ich fühle rein.

Tiefe Trauer. Und ein Satz: ‚Ich bin nicht gut genug. Nie. Ich bin an sich fehlerhaft, ein Montagsmodell.‘

‚Ich tue nur so als ob ich etwas könnte, ich spiele allen etwas vor, aber irgendwann werden sie dahinterkommen, dass ich einfach nichts zu geben habe, nichts kann, nicht gut genug bin.‘

Ich spüre den Schmerz, ich lasse ihn zu, das ist im Augenblick meine tiefste Überzeugung, wie Ezra Bayda sagt, das, woran ich ganz versteckt glaube. Und dass ich das nicht so klar sehe, dafür hat bisher das Fett gesorgt. Es musste für alles herhalten, es ist auch eine dankbare Projektionsfläche für Unzulänglichkeitsgefühle. Denn wer würde das nicht glauben? Ich glaube es schließlich selbst.

Ok, was bedeutet ’nicht gut genug‘?

‚Ich sollte mich für mein Dasein schämen. Nichts was ich mache wird jemals ausreichen um das wiedergutzumachen.‘

Um was wiedergutzumachen?

‚Dass ich existiere.‘

Und gut genug wärst du wenn?

‚Gibt es für mich nicht. Ich bin von Natur aus nicht gut genug. Deswegen sollte ich mich schämen.‘

Boah. Und wer bestimmt das eigentlich?

‚Das ist einfach so.‘

Ne, ne, nichts ist einfach so. Wie kommst du auf so etwas?

‚Ich kenne nichts anderes.‘

Ok. Ich frage anders. Gilt das für jeden Menschen?

‚Nein. Nur für mich.‘

Heißt das, alle anderen sind gut genug, nur du nicht?

‚Ja, genau.‘

Aber da alle anderen gut genug sind, und alle anderen Menschen sind, was bist du dann? Bist du kein Mensch?

‚Doch schon, aber ein besonders unzulänglicher.‘

Wie kommst du darauf, dass du eine solch herausragende Sonderrolle innerhalb der Menschheit spielst?

‚Wenn du es so sagst, klingt das ganz schön absurd. Ich merke, diese Überzeugung kommt von früher, der Blick meines Vaters hat mich so eingestuft, also hat ein Teil das für wahr gehalten, bis heute. Aber realistisch betrachtet ist es ein totaler Schmarrn. Ich bin genau wie jeder andere Mensch. Und wenn alle anderen gut genug sind, dann bin ich es auch. Und wenn jeder andere gut genug ist um sich zu bewerben, dann bin ich es auch.‘

Und all die Zeit verstecke ich mich hinter dem Fett.

….

Stunden später.

Hatte nach dieser Arbeit Kraft und Motivation. Die Bewerbung ist geschrieben und abgeschickt. Wahnsinn! Was für ein Vorher-Nachher-Effekt.

‚Wie sollte es denn sein?‘

Ich habe vorhin beim Ausparken ein anderes Auto angetippt. So leicht, dass ganz klar war, dass da nichts passiert sein kann. Ich wollte gerade aussteigen und nachschauen, da kommt schon die Besitzerin und meint, das passe schon, aber wie kann man nur so blöd sein, wenn man nicht fahren kann, dann soll man es lassen usw. usw. Ich bin quasi vor den Beschimpfungen geflüchtet, während ich noch im Rückspiegel sah, wie sie bei einer Passantin weiter schimpfte.

Danach war ich wie in Trance einkaufen, die dumpfe Glocke hat sich sofort drauf gelegt. Ich habe das meinem Mann erzählt, der nicht der Meinung war es gäbe für mich einen Grund mir sorgen zu machen, dann habe ich meine Freundin angerufen um mit ihr etwas tiefer in meine Gefühle hineinzuschauen. Denn wenn die Glocke da ist und ein unbestimmtes Grauen, dann ist es alleine sehr schwer.

Und es gibt viele Aspekte.

Als allererstes habe ich Angst, sie könnte dann doch zur Polizei gehen und sagen, dass ich Fahrerflucht begangen hätte. Es gibt zwar keinen Schaden, und sie hat gesagt ich kann fahren, weil nichts passiert ist, aber möglich ist alles.

Als zweites merke ich den Wunsch, sie wiederzufinden und mit ihr alles zu klären, damit wir wieder gut sind, auch wenn ich sie nicht kenne, damit mich keine große unbekannte Strafe ereilt.

Ich kenne die Frau aber nicht, also muss ich damit leben, dass ich das nicht tun kann. Das ist schwer. Ich fühle rein.

Ich bin unter ihren Beschimpfungen eingeknickt und bin, nachdem sie es mir ‚erlaubt‘ hat, einfach weggefahren, geflüchtet. Ich hätte für mich aber etwas anderes gebraucht. Ich hätte aussteigen sollen und mich überzeugen sollen, dass wirklich nichts passiert ist, ich hätte mir die Nummer notieren müssen, ich hätte trotz ihrer Beschimpfungen ein Gespräch zumindest versuchen sollen.

Aber in dem Moment war ich nicht in meiner Mitte und nicht in meiner Kraft. Ich bin richtig zusammengebrochen innerlich und davon gelaufen.

Und dafür verurteile ich mich. Doch das ist genau de zweite Pfeil mit dem ich selbst auf mich schieße.

Ich erinnere mich an den Spruch aus dem Selbstmitgefühlskurs: ‚Wir brauchen unser Mitgefühl weil es uns schlecht geht und nicht damit es uns besser geht.‘

Ja, ich hätte besser reagieren können, ich lege zum Trost eine Hand auf mein Brustkorb und spüre sofort die Trauer auftauchen. Ich kann es nicht mehr ändern, es ist wie es ist.

Es tut richtig gut, diesen empfindsamen, verletzlichen Anteil zu sehen und mich ihm liebevoll zuzuwenden, gerade weil ich einen Fehler gemacht habe.

Wir brauchen keine Moralpredigt oder Standpauke wenn wir einen Fehler gemacht haben, wir brauchen unseren Beistand und unser Mitgefühl.

Ich kann spüren, wie empfindlich und verletzlich wir alle sind, das ganze Leben ist, wir Menschen haben keine Kontrolle darüber was passiert, die Dinge passieren einfach. Heute hatte ich so gesehen Glück, dass keinerlei Schaden entstanden ist.

Das alles ist schon drei Stunden her, und trotz all der Arbeit damit, hängt immer noch ein dunkler Schatten über mir. Was ist denn noch los?

Ich fühle rein, etwas widerwillig, aber es hilft nichts, etwas ist noch da, ich habe gerade im Off gefrühstückt, könnte fast nicht mehr sagen was es war, geschweige denn dass ich irgendetwas geschmeckt hätte.

Und ich will wirklich wissen was es ist.

‚Ich will mich nicht so fühlen, das ist ungerecht, es war alles ok, und jetzt ist nicht mal wirklich etwas passiert und ich fühle mich schon drei Stunden so, als hätte ich Fahrerflucht begangen.‘

Hast du denn Fahrerflucht begangen?

‚Nein. Die Besitzerin hat alles mitbekommen, sie hat gesagt es sei ok.‘

Was befürchtest du denn?

‚Ich weiß es gar nicht.‘

Ok. Dann, welche Erwartung wird nicht erfüllt? Wie sollte es denn sein?

‚Ich will nicht, dass es so ist wie es ist, der heutige Tag sollte anders sein. Ohne schlechte Gefühle, die ich nicht wegmachen kann.‘

Ja, das verstehe ich. Wer will das schon? Das Leben ist eben so.

‚Ja, ich weiß.‘

So, puh, die Spannung geht runter, endlich lichtet sich der Schatten. Ich habe auch noch die letzte Facette aufgedeckt, jetzt ist Frieden in mir, alle Anteile wurden gesehen.

Ich darf mich schlecht fühlen, es ist sowieso da, ich brauche jetzt Trost und den kann ich mit auch geben. Ich fühle mich eng mit mir verbunden, wieder zuhause.

Gesehen werden

Gestern wurden wir spontan zu einem Fest eingeladen, bei Leuten, die wir schon lange nicht gesehen haben und mit praktisch völlig unbekannten anderen Gästen.

Als mein Mann mir das erzählt hat habe ich ihm vorgeschlagen er solle doch alleine hingehen. Das hätte ich einen guten Plan gefunden und ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht, aber er reagierte recht genervt und meinte ich wolle nur nicht hingehen weil ich Angst vor den Leuten hätte.

Ja, das stimmte, ich hatte Angst vor den Leuten. Wo das nun mal so offengelegt war, bin ich doch mitgegangen und es war sogar sehr schön.

Dennoch beschäftigt es mich weiter, dieser Punkt ist offensichtlich noch lange nicht ausreichend bearbeitet. Ich kreise herum. Heute morgen, bevor ich das Bett verlassen habe, habe ich noch eine Übung gemacht und bin dem nachgegangen was mich so blockiert. Und es war offensichtlich, ich schäme mich für mein Gewicht, ein alter Hut, aber nach wie vor sehr mächtig. Ich kann immer noch die Stimme hören: ‚Du solltest dünn sein, schäm dich!‘

Dann ist es wohl an der Zeit für die nächste Runde. Ich muss zugeben, dass ich da nicht so gerne hinschaue, weil ich mir keinen Erfolg verspreche. Ich gebe der Stimme absolut recht, was soll denn sonst noch dabei herauskommen?

Und doch gibt es auch einen Anteil, der sich nicht mehr schämen möchte. Und für ihn mache ich das.

Also, warum sollte sie dünn sein?

‚Wie warum? Was ist das für eine Frage? Sie will doch dünn sein!‘

Kleine, stimmt das?

‚Ja, schon, aber im Augenblick weiß ich nicht wieso. Ich habe vor allem Angst vor seinen Abwertungen, deswegen will ich dünn sein.‘

Hörst du? Sie will dünn sein, weil sie Angst vor dir hat. Also warum sollte sie dünn sein?

‚Weil es das einzig akzeptable ist.‘

Definiere akzeptabel.

‚Akzeptabel heißt, dass man sich für alles andere schämen muss.‘

Aha. Schämen. Warum?

‚Weil man sein eigenes Versagen sichtbar mit sich herum trägt.‘

Hm. Auf das mit dem Versagen gehe ich später ein. Also angenommen dieses ‚Versagen‘ wäre nicht sichtbar, dann müsste sie sich nicht schämen?

‚Nein. Weil es keiner merkt.‘

Schämen heißt für dich, sein ‚Versagen‘ nicht öffentlich zu zeigen.

‚Genau‘

Und warum nicht? Was würde passieren, wenn sie es doch täte?

‚Dann würden sie alle auslachen und verachten.‘

Kennst du jeden? Weißt du denn genau, dass es alle betrifft?

‚Nein. Aber manche bestimmt.‘

Ja, gut möglich. Dann lachen sie manche aus und verachten sie. Und dann?

‚Wie und dann. Und dann nichts. Solange sie nicht den Anspruch erhebt, ihnen etwas beibringen zu wollen.‘

Aha. Weil?

‚Weil sie als Versagerin unglaubwürdig ist.‘

Ok. Und nun zum Versagen. Wieso ist sie eine Versagerin, wenn sie dick ist? (An diesem Punkt war ich schon viele Male. Die Antwort stellt sich auch nicht sofort ein. Ich fühle lange in mich hinein)

‚Weil die anderen das so sehen.‘

Welche anderen?

‚Die, die sich damit nicht auskennen, die nur die Fassade sehen.‘

Das kann gut sein. Und?

‚Und nichts. Ich will sie schützen. Vor Anfeindungen und Lächerlichkeit. Auf Nummer sicher gehen. Keinem einen Anlass zur Kritik geben.‘

Weil?

‚Weil Kritik und Demütigung früher für sie überwältigend war, nicht auszuhalten.‘

Das stimmt, da war sie ein Kind. Für Kinder ist es überwältigend, besonders wenn es von den eigenen Eltern kommt. Also hast du ihr geholfen, das zu vermeiden, indem sie Situationen vermeidet, die möglicherweise dazu führen könnten. Aber ist das heute noch nötig? Wird sie von Kritik überwältigt?

‚Nein.‘

Nein. Heute führt das nur noch zur Lebensvermeidung. Sie versteckt sich, wagt nichts und traut sich nicht ihr Können zu zeigen.

Das ist der Moment in dem die Spannung runtergeht. Der Kreis schließt sich, ich verstehe. Ich schäme mich für das Dicksein, weil es einen sehr wahrscheinlichen Anlass für Kritik in unserer Gesellschaft liefert. Das ist so und das braucht nicht geleugnet zu werden. Und Teile in mir wollen solche Anlässe um jeden Preis vermeiden, die Scham funktioniert dabei als Mittel um mich in Schach zu halten, um mich versteckt zu halten.

Aber ich brauch Kritik nicht mehr zu fürchten, wie mein kindlicher Anteil es tut. Sie wird mich heute als Erwachsene nicht überwältigen. Doch dieses Kind in mir, dass sich noch so fürchtet braucht meinen Beistand.

Kleine, was brauchst du, um dich so wie du bist zeigen zu können?

Ich will gesehen werden, das ist alles.

Alles gleich und doch ganz anders

Seit ich hier schreibe fallen mir vermehrt Unachtsamkeiten beim Essen auf, die ich sonst ausgeblendet hätte. Es ist als würde das Universum auf virtuelle Art ein Auge auf mich haben und mich auf blinde Flecke aufmerksam machen.

Dass ich jetzt ein paar Nüsse und ein Stück Schokolade gegessen habe, dass ist nicht das Problem. Ich habe Hunger. Und es summt süß und knackig und konzentriert. Passt.

Das Problem ist, das war Zufall. Es hätte genau so sein können, dass ich keinen Hunger habe oder das etwas ganz anderes summt, weil ich es fast nicht bemerkt hätte, dass ich esse. Aber Gott sei Dank eben nur fast.

Jetzt atme ich durch, spüre meine Füße und nehme mir ein wenig Zeit mich mit mir rückzuverbinden. Wie geht es mir?

In mir fährt es Karussell, im Brustkorb dreht sich alles, mein ganzer Körper vibriert, wenn ich es zulasse, dann noch viel stärker. Innerlich tanzt es und hüpft es und springt es. Wild durcheinander. Aber schön.

Ja, schön, das ist neu. Dieses aufwühlende verrückte Rumgesause ist schön. Das ist pure Lebendigkeit, genau die Lebendigkeit, die ich oft verzweifelt suche.

Warum dann das Essen?

‚Weil das Intensive abgedämpft werden soll, ob negativ oder positiv.‘

Und wieso?

‚Weil das viel zu anstrengend ist.‘

Was heißt anstrengend?

‚Nicht Nulllinie.‘

Nulllinie?

‚Ja, die Nulllinie ist anzustreben, der Om-Zustand, alles andere ist nicht gut.‘

Wieso nicht?

‚Weil es nicht die Nulllinie ist.‘

Ja, das habe ich verstanden, aber wenn schon, dann ist es eben nicht die Nulllinie, und?

‚Nur in der Nulllinie ist Sicherheit, das ist bekannt und absolut sicher.‘

Sicher inwiefern?

‚Keine Überraschungen, Nulllinie eben.‘

Und wieso keine Überraschungen?

‚Die können überwältigend sein.‘

Ist das schon mal vorgekommen?

‚Ja, ganz oft früher, wenn sie ihren Impulsen oder ihrer Lebendigkeit freien Lauf gelassen hat, wurde sie entweder bestraft oder kritisiert. Es war nie richtig was dabei herauskam. Also helfe ich ihr sich runter zu regulieren.‘

Aber das entspricht nicht ihrem Wesen, sie ist von Natur aus laut und intensiv.

‚Ja, das stimmt‘

Ich verstehe, dass es in ihrer Kindheit ganz wichtig war, diese Fähigkeit zu entwickeln sich selbst runterzufahren. Aber ist es heute noch relevant?

‚Nein‘

Nein, heute darf ich die Lebendigkeit spüren und ihr auch einen Ausdruck geben. Ich darf herumhüpfen und albern sein, laut und nervig, intensiv und gefühlsbetont, es darf alles ans Licht. Alles.

Die Spannung geht runter. Das Karussell ist immer noch da, aber ich kämpfe nicht mehr dagegen an. Ich genieße es.

Es ist alles genau so wie vorher, aber total anders.

Der Abend, das Essen und die ganz, ganz harte Nuss

Meine allergrößte Hürde ist das Abendessen. Das rechtzeitige Aufhören fällt mir unglaublich schwer. Und ich muss auch gestehen, dass ich das Arbeiten damit auch vermeide wo es nur geht. Obwohl ich also bis auf runde 20 Mal in fünf Jahren jeden Abend zu viel esse, habe ich diese 20 Mal damit gearbeitet und sonst nicht.

Die Macht des Essens ist am Abend so groß, dass es mir währenddessen sogar absurd erscheint mich zu fragen ob ich noch Hunger habe. Nicht die allerkleinste Pause darf sein, ich könnte dann vielleicht nicht weiter essen und dann… Ja was dann eigentlich?

Einfach nicht essen und den Drang und Druck einfach aushalten ist keine Option (mehr), das habe ich zu Diätzeiten zu Genüge getan, bringt ja langfristig nichts, denn irgendwann kommt der Zeitpunkt an dem die Kraft zum Zusammenreißen nicht mehr ausreicht und dann geht alles wieder von vorne los. Und genau das will ich nicht mehr.

Im Nachhinein kann ich es auch nicht bearbeiten, da komme ich in diesem Fall nicht ran. Es hilft nur auf frischer Tat. Und genau das ist sooo schwer. Heute will ich es tun.

Später. Es fällt mir schwer zu stoppen, aber ich schaffe es, weil ich verspreche nur zu schauen und mir nicht das Essen zu verbieten.

‚Aufhören kommt gar nicht in Frage, das geht nicht, dann hatte ich nichts vom Tag, ich muss voll sein.‘

Voll heißt, dass der Magen schon leicht gedehnt wird, aber noch nicht überdehnt.

‚Das ist abends für mich wichtig, dann kann ich auch aufhören. Wenn noch das klitzekleinste bisschen in den Magen passt, dann kann ich nicht aufhören.‘

Musste in der Zwischenzeit dies und das mit den Kindern besprechen, den Tisch abräumen und schwupp, landeten ein paar Reste in meinen Mund, nicht viel, drei Bissen, aber genau die machen den Unterschied. Vorher war ich satt, jetzt bin ich voll.

Ich atme ein paar Minuten und fühle was ist.

Trauer, Enttäuschung, die Stimme meldet sich auch: ‚So wird das nichts, wieder nicht geschafft.‘

Ja, ja ich weiß, du bist auch da. Die Stimme kann mich nicht mehr schocken.

Ich fühle weiter, eine tiefe Verzweiflung, ich will einfach nicht mehr dick sein, ich will es nicht, ich kann meinen Anblick nicht ertragen. Ich will mich für mein Praktikum in Kliniken bewerben und schäme mich für mein Gewicht.

‚Eine dicke Tanztherapeutin, das geht gar nicht‘

Warum?

‚Wem will sie denn helfen, sie kann sich ja selbst nicht helfen.‘

Was meinst du mit helfen?

‚Dünn sein.‘

Soll sie denn den Patienten helfen dünn zu sein?

‚Ne, das nicht.‘

Also wie hängt das zusammen?

‚Dick sein ist ein Ausdruck des Versagens, solange sie dick ist muss sie sich schämen. Und gerade als Therapeutin geht das gar nicht. Damit ist sie per se unglaubwürdig.‘

Boah. Der Glaubenssatz sitzt tief. Ich spüre die Resonanz im ganzen Körper. Tränen. Schauer. Schwindel. Immer wider faszinierend wie genau der Körper rückmeldet wenn man des Pudels Kern getroffen hat.

Ich bin gerade sprachlos. Es tut gut, diesen Satz gefunden zu haben und die enorme Macht zu spüren, die es über mich hat, gleichzeitig bin damit so identifiziert, ich habe nicht die geringste Ahnung wie ich es auch anders sehen könnte.

Ok. Ich fange an.

Warum ist das ein Ausdruck des Versagens?

‚Wenn sie dick ist, arbeitet sie nicht genug an sich.‘

Wann wäre es genug?

‚Wenn sie dünn ist.‘

Geht es nur darum? Sind damit alle dünnen Menschen keine Versager?

‚Genau‘

Und wenn sie einfach kein Essproblem haben? Oder nur durch Kampf mit dem Essen das Gewicht halten?

‚Egal‘

Du meinst also, jeder, der dünn ist, ist automatisch ein glaubwürdigerer Therapeut als sie?

‚Ja‘

Weil?

‚Weil das Aussehen stimmt. Der Rest ist nicht so wichtig. Das findet sich dann.‘

Ich höre hier auf und mache später weiter. Ich bin müde und komme hier nicht weiter. Alles erscheint mir in Stein gemeißelt. Und auch wenn meine Ausbilderin meine Glaubenssätze nicht teilt, für mich gibt in diesem Moment keinen Weg es anders zu sehen. Dieser Glaubenssatz ist eine ganz ganz harte Nuss. Der lässt sich nicht so leicht vom Tisch fegen. Noch nicht.

Als Akt der Selbstliebe folge ich jetzt meinem Bedürfnis nach Pause und vertage diese Erforschung.